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Travel Storys

Prag

Seit Ende des kalten Krieges ist Prag für den Westen zum Mekka für Klassenfahrten geworden. Zwischen Museen und Kneippen werden Kafka und der Prager Fenstersturz thematisiert, und wie es sich für Fahrten dieser Art gehört, natürlich reichlich klasseninterne Inzucht praktiziert. Im Saft ihrer Blüte stehend, besuchten die drei Schüler Christian Haller, Gian-Luca Cavigelli und Iouri Podladtchikov mit Ex-Lehrer Humbi und dessen Gehilfe Damian von MMP Films die goldene Stadt an der Moldau. Ihr erklärtes Ziel waren weder Kafka, noch der Prager Fenstersturz, noch das andere Geschlecht. Vielmehr sollten möglichst viele Handrails der Stadt mit ihren Snowboards bearbeitet werden. Vermochten die Drei dem Alkohol und der Sinnlichkeit zu widerstehen oder verlagerten Gerstensaft und Wodka die „Frontside Boardslide to Bagel off“ der Jungs in die Bars von Prag? Begleitet die Schweizer Vorzeigeschüler auf ihrer Exkursion durch die Ostmetropole.

Der Schnee aus dem Anhänger spritzte direkt vor die Füsse des Portiers, als die MMP-Crew die Auffahrt zum Hilton hoch brauste. Dieser konnte die Zweifel über die neue Kundschaft nicht mehr zerstreuen, als die Jungs zur Begrüssung in voller Snowboardmontur aus dem Wagen stiegen. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, gab man mir zu verstehen. Der Schnee schmolz im Anhänger und das erste Rail wartete eine gute halbe Stunde entfernt auf der anderen Seite Prags. Das Hilton war lediglich Treff- und Ausgangspunkt unserer Pragexkursion. Dem besorgten Portier fiel ein Stein vom Herzen, als wir wieder in unsere Autos stiegen, und er realisierte, dass er uns nicht Willkommen heissen musste. Wir liessen das Geschäftsviertel der neureichen Prager hinter uns und fuhren einmal quer durch die ganze Stadt. „Vorstadtghetto“ würde die Plattenbausiedlung, in deren Herzen ein Trible Kink Rail unseren Auftakt besiegeln sollte, wohl am besten beschreiben. Doch die Tristesse dieser Umgebung konnte uns nicht davon abhalten, unser Set-up voller Enthusiasmus aufzubauen. Was uns vor lauter Euphorie entging, waren die schwindligen Pseudo-Bodybuilder, die in ihren Bomberjacken an die umliegenden Häusermauern lehnten, und gleich einem Rudel Wölfe den richtigen Moment für den Angriff abzuwarten schienen. Mit dem Einsetzen der Dämmerung wich unsere anfängliche Belächelung und das überhebliche Mitleid, wie man es jungen Männern dieses Schlages öfters gegenüberstellt, einem „Angst habe ich keine, aber rennen kann ich“-Gefühl. Im Nachhinein können wir vermutlich von Glück reden, dass ein Anwohner unsere Session der Polizei meldete. Die löste unser Shooting genau zu dem Zeitpunkt auf, als wir so richtig in Fahrt kamen, und sich das Kitzeln in den Fäusten der Vorstadtgangster in der Luft zu Knistern begann. Mit ein paar wenigen Boardslides im Kasten, dafür ohne Feilchen und Kieferbruch verabschiedeten wir uns vorzeitig in den Feierabend.

Erwartungsvoll starteten wir in den neuen Tag. Ein langes Double Kink Rail wartete darauf, seinen Meister zu finden. Zuvor machten wir einen kurzen Abstecher zu der Eishalle, um den Anhänger mit neuem Schnee für Anfahrt und Landung zu beladen. Um unserer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen und uns für die nächsten Tage ein Stein im Brett zu sichern, brachten wir dem Hallenwart eine Flasche Kräuterlikör mit. Der setzte die Flasche gleich mit einem freudigen Zug an, dass alle Zweifel darauf, die Flasche könnte bis zur Mittagszeit noch halbvoll sein, sofort aus dem Weg geräumt waren. Als wir unsere Sachen packten sahen wir den Hallenwart vor unserem inneren Auge bereits im Blindflug übers Eis steuern.

Das Rail stand in mitten eines Parks, der ungefähr der Grösse eines Fussballfeldes entsprach. Strassenbahngleise und eine mehrspurige Strasse umgaben die grüne Oase. Etwas verunsichert durch die polizeiliche Stippvisite des Vortages fuhren wir mit unseren Autos in die Parkanlage. Während Iouri, Hitsch, Gian-Luca und zwei Locals Anfahrt und Landung für das Rail präparierten, baute die Filmcrew die Kameraseilbahn der Marke „Eigenbau“ für ihren Jungfernflug auf. Nach einigen erfolgreichen Testfahrten der Seilbahn war alles für den Showdown bereit. Iouri dropte die Anfahrtsrampe hinunter, und Humbi löste die Seilbahn. Das Timing schien gut und Iouri kam bei seinem Fs 50/50 perfekt in Position. Leider hatte er zuwenig Speed und blieb im Kink stecken. Die Kamera hingegen raste weiter der Seilbahn entlang, haut sich am Ende mit einer Rolle rückwärts aus der Führung und zerschellte mit einem dumpfen Knall am Boden. Unser erster Kameramann war damit im Handumdrehen arbeitslos. Die Stimmung, vergleichbar mit der während einer Totenwache, liess kurze Zweifel an dem gesamten Projekt aufkommen. Wir fühlten uns wie eine Fussballmannschaft, die nach einem weiteren Gegentreffer völlig gelähmt über den Rasen strauchelt. Nach der kurzeitigen Resignation mussten wir uns eingestehen, dass wir mit dem Kopf im Sand nicht weiterkommen würden. Aus Not machten wir also Tugend, und ernannten Humbi kurzerhand vom Arbeitslosen zum Urlauber um. Damian, der zweite Filmer war nun die neue Nummer 1 und übernahm die Regie. Leider war es unmöglich, das Rail komplett durchzugrinden, da der Rutschfaktor des Geländers gleich null war. Selbst nachdem wir das Rail mit Öl frisiert hatten, kam Gian-Luca als Weitester nur bis kurz vors Ende. Langsam aber sicher machte sich der Druck bemerkbar, denn das bis dato gefilmte Material konnte ebenso gut in die Tonne getreten werden.

Wir kontaktierten Renda und David vom tschechischen Freemagazine und verabredeten uns zum Abendessen. Eins wussten wir jedoch schon vor dem grossen Dinner: Der nächste Tag musste mit einer Frustshopping-Einheit beginnen. Aus diesem Grund fuhren wir zurück zur Eishalle und bestellten die Schneelieferung auf den Nachmittag um. Der Hallenwart, der ohnehin nicht gerade mit Schönheit gesegnet war, streckte uns ein Gesicht entgegen, dass am Morgen zu vor zweifellos noch ohne Grünstich gelächelt hatte. Die Flasche Kräuterlikör hatte ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Und in der nächsten Sekunde flog uns auch schon ein Redeschwall in einem Mischmasch aus tschechisch und der internationalen Sprache Besoffener entgegen. Widerstand war zwecklos. Alle Versuche dem Hallenwart klar zu machen, dass wir kein Wort, von dem was er lallte, verstanden und wir den Schnee erst nachmittags brauchten, scheiterten kläglich. Zudem war seine Fahne so widerlich, dass jede Annährung auf Gesprächsnähe so oder so einer Mutprobe glich. Nach einigen Minuten platzte Humbi der Kragen. Mit einem falschen Lachen auf den Lippen schmiss er dem Hallenwart eine Kraftausdruckssammlung der Extraklasse um die Ohren und schloss seine hitzige Rede damit ab, dass wir keinen Bock mehr hatten und jetzt gehen würden. Mit dieser Explosion hatte das schwankende Etwas von Hallenwart scheinbar nicht gerechnet. Erstaunt hielte er inne und erwiderte Humbi in gebrochenem deutsch: „Ach so, sie wollen gehen…“. Wer letztlich mehr überrascht und tiefer im Boden versinken wollte, konnten wir in diesem Moment nicht ausmachen.

Renda und David ihrerseits warteten bereits mit Stadtplan im Gepäck vor dem Restaurant. David erklärte uns alle Spots der Stadt und zeichnete sie auf der Strassenkarte ein. Die viel versprechenden Schilderungen zu den Spots gaben uns Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden würde. Ein Prost auf unsere tschechischen Freunde! Den Stadtplan fest in den Händen verliessen wir das Restaurant Richtung Innenstadt. Die Bar, in der wir unser erstes Bier tranken, entpuppte sich als astreine Touristenklatsche. Schnell kippten wir das Gebräu hinter die Binde und suchten das Weite. Vor der Tür wartete bereits die nächste Überraschung: Tschechien steht dem Westen in Punkto Fastfood-Restaurants nämlich in nichts nach, und so konnten wir uns auch in Prag nicht vor dem berühmtesten „M“ der Welt verstecken. „Bring doch noch zehn Bier mit!“, rief Gian-Luca Iouri zu, der gerade dabei war, einen Teil seines Geldbeutelinhalts der Kassieren hinter dem Tresen zu überlassen. Der junge Russe liess sich nicht lumpen und kam mit einem Tablett voll Bierdosen an den Tisch zurück. Den Namen des Trinkspiels, das uns in eine stöhnende und lechzende Runde verwandelte, habe ich leider vergessen. In Kürze erklärte, funktionierte es wie „Kofferpacken“, jedoch mit Lauten und Körperbewegungen – je anrüchiger, desto besser. Wer einen Move oder Laut vergass, musste trinken. Natürlich vergassen wir alle hie und da, und mit zunehmender Spieldauer auch immer öfters, mal etwas. Wenn ich hier niedertippe, dass wir unseren einzigen nächtlichen Streifzug in Prag bei Big-M verbrachten, kann ich es selbst kaum glauben. Doch wie auch immer, es muss ein Bild für Götter gewesen sein!

Der freie Vormittag half uns, den Hangover in den Griff zu bekommen und den Kopf von Druck und Zweifeln zu befreien. Als die Karlsbrücke angeschaut und der Weihnachtsmarkt erkundet waren, zog uns die Zeit auch schon wieder zurück ins Hotel. Es galt den bevorstehenden Abend gut vorzubreiten. Zwei Ledges direkt am Prager Fernsehturm standen auf dem Programm. Die erste Ledge entpuppte sich als wahrer Segen. Vom Backside Lipslide bis zum Frontside Boardslide Bagle Out klappte alles wie am Schnürchen. Das am Vortag weg geärgerte Selbstbewusstsein war plötzlich wieder da. Endlich war Durchatmen angesagt! Doch das Pech schien uns wie ein Fluch zu verfolgen. Zwei nagelneue Dieselaggregate entpuppten sich als Blindgänger und setzten diesem letzten Abend den Schlusspunkt. Für die zweite Ledge hätten wir externes Licht benötigt. Ohne die beiden Aggregate, die trotzig an ihrer Dienstverweigerung festhielten, konnten wir unser Vorhaben vergessen. Völlig entnervt, verschwitzt und mit nahezu ausgekugelten Schultern gestanden wir uns die Niederlage gegen die Startleine ein. Mit einem Gefühl aus Wut und unendlicher Enttäuschung im Bauch machten wir uns gegen 1:30Uhr auf den Heimweg zum Hotel. Wir waren uns einig, so erfolglos würden wir Prag nicht hinter uns lassen! Morgen früh sollte ein Earlybird an einem weiteren Kinkrail unserem Trip das bitter nötige Happyend bescheren.

Morgenstund hat Gold im Mund. Getreu diesem Motto machten wir uns ziemlich verschlafen auf den Weg zu unserem letzten Streich. Dort angekommen verspürten die Fahrer schlagartig ein flaues Gefühl in der Magengegend. Grund dafür war nicht das fehlende Frühstück, eher aber die Grösse des Rails. Es war einer dieser Momente, in denen ich innerlich dafür danke, Fotograf und nicht Fahrer zu sein. Hätte ich Gian-Luca in dieser Sekunde gefragt, hätte er wohl locker mit mir die Position getauscht. Man sah ihm die Angst an der Körpersprache an, als er für den First Try die Anfahrtsrampe hochkletterte. Während Gian-Luca sein Brett in Fahrtrichtung drehte und in die Rampe dropte, hielten alle anderen den Atem an. Den nächsten Augenblick könnt ihr auf den Seiten 82 und 83 miterleben. Gian-Luca kam perfekt auf das Rail, machte einen mega stylishen Frontside 50/50 und sprang etwas früher von dem Rail ab als geplant. Doch eins stand dennoch fest: Das Rail funktionierte. Eine halbe Stunde später hatten wir die besten Aufnahmen des Trips im Kasten, packten erleichtert unsere sieben Sachen und begaben uns auf die Autobahn Richtung Heimat.

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