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Travel Storys

Abchasien

Es war eine kalte, regnerisch mondlose Nacht, als wir im März aus dem Bus ausstiegen, um zur russisch-abchasischen Grenze zu gelangen. Während wir über die lange, schummrig beleuchtete Brücke des Psou-Flusses blickten, flüsterte Rémi mir zu: „Ich fühle mich wie in einen Film des Zweiten Weltkriegs versetzt.“ Auf der anderen Seite der Brücke konnten wir die abchasische Landesfahne im Wind flattern sehen. Eine grün-weiss gestreifte Flagge, die durch eine geöffnete Hand und sieben Sterne vor einem roten Feld gekennzeichnet ist. Die Handfläche steht für die abchasische Unabhängigkeit, die sieben Streifen für die religiöse Toleranz der Kaukasier gegenüber Christentum (weiss) und Islam (grün). Darius Heristchian, Victor De Le Rue, Per Løken, Rémi Lamazouère und ich schleppten unser Gepäck über die Brücke – über die Grenze nach Abchasien. Hektisch versuchten wir, mit dem Grenzbeamten auf der anderen Seite mittels Zeichensprache zu kommunizieren, bis er seine Kippe aus dem Mund nahm und mich mit meinem Pass in der Hand scharf ansah:

„Olympique de Marseille?“, fragte er in gebrochenem Französisch. Das verwirrte mich. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Zidane is the best!“ Alles klar. Er meinte den Stempel Marseilles auf dem russischen Visum, Heimat des berühmten Fussballers Zinédine Zidanes. Sein Schmunzeln lockerte zum Glück die Atmosphäre auf und er hiess uns willkommen. Wir stiegen in einen anderen Bus ein, der uns direkt zu unserem Hotel in dem Städtchen Pitsunda brachte. Unsere Mission dort war, die letzten unerkundeten Hänge Europas zu shredden – und das in einem Land, welches man zu Recht als „nicht existierendes Land“ bezeichnen könnte. Abchasien hat einen eigenen Präsidenten, eine Nationalhymne und ein amtliches Visa-System für ausländische Besucher – ich war Nummer 1062 –, doch auf der Land karte existiert es nicht. Offiziell gehört dieser kleine subtropische Flecken Erde an der Schwarzmeerküste mit einer Population von circa 180.000 Einwohnern zu Georgien und wird vom Rest der Welt nicht als eigenständiger Staat anerkannt. Dieses Land bedeckt 8.500 Quadratkilometer zwischen der Nordostküste des Schwarzen Meers und dem Kaukasus. Begrenzt wird es ausserdem im Norden von der Grenze zu Russland und im Osten von der zu Georgien. Das Klima der Küstentäler ist feucht-subtropisch, wohingegen sich in den Bergen Gletscher befinden. Die auffallend geringe Distanz zwischen Meer und hohen Gipfeln verleiht Abchasien seine einzigartige Landschaft.

Spät in dieser Nacht erreichten wir unser Hotel. Ein grosses Haus direkt an der Küste, umgeben von Palmen. Die Zeit in Abchasien schien vor Jahrzehnten mitten in den 60er-Jahren stehen geblieben zu sein. Die Lobby des Hotels in typisch kommunistischer Architektur war riesig, mit einer kleinen Theke auf der einen und einer Statue des Landeshelden auf der anderen Seite. Der Ort schien menschenleer zu sein mit Ausnahme von ein paar Geschäftsleuten und schwarz gekleideten Frauen, die den Ahornboden entlangstöckelten. Die Korridore waren eindrucksvoll mit Karten Abchasiens und Souveniren dekoriert, die aus dem Krieg gegen Georgien stammten. Wir sahen Porträts von Kriegshelden und eine Wand mit einer chronologischen Karte des Landes, das Jahr 1993 in Schwarz: ein schlechtes Jahr für Abchasien.

Als 1991 die UdSSR zerbrach, wurde Georgien unabhängig. Abchasien strebte in dieser Zeit enge Beziehungen zu Russland an, woraufhin Georgien 1992 Truppen in die abtrünnige Region entsandte. Der Widerstand der von Russland unterstützten Abchasen führte zu heftigen Kämpfen, Tausende starben. 1993 zog sich Georgien aus Abchasien zurück. 250.000 Georgier waren von nun an auf der Flucht, deren Häuser man niedergebrannt hatte und die bis heute keine Möglichkeit zur Rückkehr haben. Nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstands am 15. Mai 1994 erklärte sich Abchasien unabhängig und die UN entsandte Friedenstruppen, um die Situation weiter zu beobachten.

Am ersten Morgen unseres Trips prasselte der Regen auf den Marmorrand des Swimmingpools. Eine hauchdünne Schneeschicht bedeckt den Boden und nur die Palmen erinnerten uns daran, dass wir uns in subtropischen Breitengraden befanden. An diesem Tag wollten wir uns erst die Gegend ansehen und besuchten mit einem Guide die Hauptstadt Suchumi mit ihren rund 100.000 Einwohnern. Nach zahlreichen Verkehrskontrollen und den „Mustsees“ touristischer Attraktionen erreichten wir endlich die Stadt. Die Handschrift des Kriegs war noch überall zu erkennen: Einschusslöcher an den Hauswänden der Vororte, die unzähligen Ruinen der niedergebrannten Häuser. Die schwache Wirtschaft und die damit verbundene Armut waren unübersehbar. Unser Guide erklärte uns, dass man die verbrannten Häuser nicht restaurierte, da es Unglück bringen würde, etwas Georgisches wieder aufzubauen. Dies war der gängige Vor wand, doch Abchasien liegt finanziell am Boden und hat keine Mittel für den Wiederaufbau des Landes. Seit 1996 isoliert eine Wirtschaftsblockade die Region vom Rest der Welt mit Ausnahme von Russland.

Kein Wunder also, dass alle Läden in den Strassen russisch waren. Russische Unterstützung war seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stets die Rettungsleine für Abchasien. Die Russen haben dem Land nicht nur wirtschaftlich während des Embargos von 1996 geholfen, auch die offiziell nie bestätigte Unterstützung im Unabhängigkeitskrieg machte den Alleingang erst möglich. Die Russen stellten in dieser Zeit für abchasische Bürger russische Papiere aus, bauten ein Telefonnetzwerk auf, förderten den Tourismus und versuchten schliesslich, den Frieden zu sichern. Natürlich verhärteten diese Massnahmen der Russen die Fronten gegenüber Georgien. Wenn man ehrlich ist, wollten beide Seiten, Russland mit Abchasien und Georgien mit den westlichen Staaten, ihre Macht im Kaukasus sichern. Pipelines verlaufen durch diese Region, ohne dass sie an dem von Mullahs regierten Iran oder auch Teilen Russlands vorbeimüssten. Aus diesem Grund verhalten sich die Russen ähnlich wie damals im kalten Krieg, sie heizen das Feuer an. Putin will mit aller Gewalt verhindern, dass Georgien zusammen mit dem Westen zu viel Einfluss in dieser Region erlangt. Wie so oft halten bei derartigen Konflikten Grossmächte die Fäden in der Hand und wie immer geht es dabei letztlich nur um eins: Öl. Dieser kurze Ausflug in die Geschichte Abchasiens veränderte unsere Sichtweise. Wie kann man noch feststellen, wer die Guten und wer die Bösen sind? Wir konnten es nicht. Überall wo wir hinkamen, behandelten uns die Menschen freundlich. Für sie war es auch kein grosses Problem, offen über den Krieg zu sprechen. Ein selbst ernannter Taxifahrer zog einen traurigen Schluss aus der Sache: „Eines Morgens wachte ich auf und meine Nachbarn waren ab diesem Tag meine Feinde.“

Aufgrund der fehlenden Bildung und Kultur ist es ein Leichtes für Regierungen, die Menschen in Abchasien zu beeinflussen. Nachts fuhren wir zurück zum Hotel. Das Wetter besserte sich. Unser Heli wurde von einer Militärstation inklusive abchasischem Offizier, der das Luftkommando des Kaukasus zu Sowjetzeiten an führte, eingeflogen. Es herrschte Windstille. Die Abendsonne färbte die Berggipfel rot und liess sie im Schwarzen Meer reflektieren. Ganz ehrlich, es konnte nicht besser werden. Der folgende Morgen verlief etwas chaotisch. Gegen neun Uhr schafften wir es endlich, aus dem Hotel Richtung Abflugplatz aufzubrechen, wo der riesige MI-8 bereitstand. Wir flogen über gigantische Gipfel und Bergketten hinweg, bis uns die riesige Hummel auf einem Grat absetzte. Wir checkten die Oberfläche auf dem Südhang und waren uns einig, dass die Wärme und die Sonne den Schnee zu unsicher und riskant machten. Das bedeutete ein Katz-und-Maus-Spiel mit Licht und Schatten auf unserem Run nach unten. In den höheren Lagen war der Schnee tiefster Powder, je tiefer wir kamen, desto fester wurde er. Nach einigen gelungenen Aufnahmen suchten wir nach Spots für den nächsten Tag. Neben den eigenartigen Schneeverhältnissen beunruhigten uns die Fähigkeiten unseres Piloten am meisten: Er benötigte oft mehrere Anläufe, um uns teilweise absetzen zu können, einmal wurden wir sogar auf einer überhängenden Wechte ausgesetzt, die er anschliessend beinahe mit dem Heli-Hinterteil rammte! Als wir mit fetten Smiles in den Gesichtern ins Hotel zurückkehrten, scharten sich viele Menschen um uns. Verunsichert winkten wir ihnen zu und sie lachten uns an. Was dachten die bloss von uns? Verrückte Klamotten, Heli-Service und Snowboards gehören wohl nicht gerade zum Alltagsbild in Abchasien.

Am nächsten Tag verdeckten dichte Wolken den Himmel und ein eisiger Wind kam auf. Wir konnten nicht fliegen. Also machten wir erst mal einen Spaziergang ums Hotel. Aus irgendeinem Grund liessen mich die Jungs alleine und so marschierte ich weiter auf der Strasse ins nächstgelegene Dorf. Ich zog an den Häusern vorbei, und als mir auffiel, dass die Strasse nicht mehr der Küste folgte, nahm ich eine Art Feldweg in Richtung Strand und hoffte, so zurück zum Hotel zu kommen. Was ich fand, waren Ruinen und zerstörte Häuser. Einst war dies bestimmt eine schöne Gegend mit Farmen und Familienhäusern, doch der Krieg wirft immer noch seinen Schatten über das Land. Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ob ich ein Echo der Schreie und Tränen der Vergangenheit durch die Stille zu hören schien. Kühe und Schweine suchten eifrig nach Nahrung in den Bergen von Müll, die hier zurückgelassen wurden. Ich fühlte mich unwohl. Ein Stück weiter nach den zerstörten Gebäuden entdeckte ich eine intakte Siedlung. Es waren kleine Häuser, kleiner als die Ruinen. Ich traf keine Menschenseele, doch es lebten eindeutig noch Menschen dort, ärmer noch als ihre Vorfahren. Mein Gefühl zog mich weg von der dreckigen Strasse und ich bog nach rechts ab, direkt auf einen Friedhof. Was anfänglich aussah wie der schönste Friedhof auf Erden, wurde zum unvergesslichen Gegenteil. Weiter unten am Strand bemerkte ich, dass einige Gräber abgerutscht waren und nun geöffnet am Strand lagen. Särge, Holzreste und modrige Kleidung der Toten ragten aus dem Sand. Was bedeutet es, wenn ein Staat nicht mal mehr Sorge für seine Toten tragen kann? Nach einem langen Marsch am Strand gelangte ich schliesslich wieder zum Hotel zurück. Auf dem Weg sah ich Abwasserrohre, die direkt ins Meer verliefen, und ich realisierte, dass ich niemals zuvor eine solch leere See gesehen hatte. Grund ist das Wirtschaftsembargo, das Schiffen den Zugang zu diesen Gewässern verweigert. Am Nachmittag brachen die Wolken auf und ein wunderschöner Sonnenuntergang beendete glücklicherweise meinen trostlosen Ausflug. Am nächsten Tag warteten ein Fotograf und in Pelz bekleidete Damen mit ihrem Chauffeur in einem uralten Mercedes am Helikopter.

Während wir auf den Piloten und den Offizier warteten, kamen die Ladys zu uns herüber und der Fotograf begann, Fotos von den vor uns posierenden Mädels zu schiessen. Später erfuhren wir, dass die Menschen uns für Stars hielten, die mit ihrem privaten Armeehubschrauber die Gegend erkundeten. Wieder in der Luft erkannten wir sofort, dass der Schnee windgepackt war. Viele Spots schienen unfahrbar, aber wir fanden glücklicherweise doch noch einige Spots. Direkt nach unserem ersten Drop am zweiten Tag stand Rémi einen fetten Fs 360° ein fettes Cliff runter, es war der höchste Sprung des gesamten Trips. Einige Stunden später flog. Darius über eine Windlip mit einem perfekten Method Air hinaus. Ein Shot nach dem anderen war im Kasten. Auch der letzte Tag des Trips verlief nicht anders. Wir wollten unbedingt noch ein Paar Kicker-Shots und suchten nochmals an den ersten Hügeln direkt über dem Meer. Wir wurden fündig. Drei Stunden Schaufeln, 30 Minuten Shooten. Um uns herum gingen einige massive Lawinen, auch unterhalb der Landung. Wir fühlten uns unwohl und nach einigen gestompten Tricks liessen wir uns lieber vom Heli aus der sketchy Zone abholen und flogen zurück. Erst in der Luft konnten wir die riesigen Risse und grünen Felder, die die Lawinen hinterlassen hatten, wirklich erkennen. Ich hatte das Gefühl, dass es auch uns jederzeit hätte erwischen können, wir hatten einfach unglaublich Glück gehabt. Fast am Hotel angekommen, schwebten wir über dem Schnee und blickten auf einen weiteren atemberaubenden Sonnenuntergang. Während der nächsten zwei Tage auf unserem langen Weg zurück zur russischen Grenze und weiter nach Hause musste ich ständig daran denken, dass Abchasien das schönste Land war, das ich je gesehen hatte. Umso mehr tut es jetzt, Monate später, weh, in den Nachrichten zu hören, dass die Situation von Tag zu Tag schlechter wird und die Region erneut auf der Kippe zum Krieg steht. Doch genau in diesen Zeiten sollten unsere Geschichte und unsere Eindrücke in die Welt hinausgetragen werden.

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