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‚Als wir vom Freeriden zurückkehrten, eskalierte der Krieg‘

Viele Powder-Fans träumen von den perfekten Hängen der Himalaya-Region Kaschmir. So auch Federico Romanello, der Himmel und Hölle in dem Krisengebiet kennenlernte.

Text und Fotos: Federico Romanello, Actionfotos: Marius Eisele

Viele Gründe sprechen dafür, warum eine Reise nach Gulmarg, in das Tal der Region Kaschmir, so besonders ist. Da wäre die Hauptattraktion des kleinen Dorfes im Himalaya, die Gulmarg Gondola, eine der höchsten Gondeln der Welt. Und natürlich das leicht zugängliche Backcountry mit seinem perfekten Powder, der für ganze Pilgerzüge von Freeridern sorgt. Aber es gibt noch so viele weitere Punkte: Die pelzigen Affen, die sich im Dorf durch die Bäume hangeln, oder Schneeleoparden, die man nicht allzu häufig zu Gesicht bekommt. Dennoch spürt man ihre Blicke, wenn man im Backcountry einen Hang hochstiefelt. Der wichtigste Grund ist aber zweifelsohne die Kultur, die so grundlegend anders ist, als man sie von den Skiresorts dieser Welt gewohnt ist.

Der Islam ist hier die Hauptreligion und die lauten Gebete wabern bereits früh morgens durch die Dörfer und über die Berge. Auf den Straßen herrscht dieses sympathische Chaos – genauso, wie es wohl von einem Land auf dem indischen Subkontinent erwartet wird. Wobei man gegenüber den Einheimischen keinen Bezug auf Indien nehmen sollte: Für sie wird ihr Land niemals Indien sein.

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Die Region Kaschmir ist seit des Indischen Unabhängigkeitsgesetzes von 1947 eine Konfliktregion und in drei Zonen aufgeteilt. Indien beansprucht das Gebiet zwar für sich, dennoch kontrolliert der Staat nur knapp die Hälfte von Kaschmir. Im Norden und Westen regiert Pakistan, der Osten hingegen ist unter der Kontrolle Chinas. Seit über 70 Jahren ist die Himalaya-Region das Pulverfass im andauernden Konflikt zwischen Indien und Pakistan, der vergangenes Jahr erneut brutal entfachte – und zwar exakt zu der Zeit, als ich dort zum Snowboarden war.

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In den Straßen Gulmargs merkt man nicht viel davon, dass diese Region als Kriegszone gilt. Die Kaschmiris lächeln stets freundlich, nehmen uns mit ihrem Auto mit oder bieten sogar an, sich auf Skiern oder Snowboards hinten dranzuhängen. Auch helfen sie ganz selbstverständlich anderen, wenn ein Wagen auf den vereisten Straßen liegenbleibt.

Indische Soldaten können überhaupt nicht nachvollziehen, warum jemand Geld dafür zahlt, in diese abgelegene Ecke der Welt zu kommen.

Touristen erleben Kaschmir als Freeride-Oase mit unendlichen Lines, tiefem Powder und viel Happiness. Die hohe Militärpräsenz ist jedoch ein Reminder an die bedrückende Realität. Indische Soldaten sind überall präsent. Wir Menschen aus dem Westen in unseren komisch-bunten Klamotten sind ihnen ziemlich egal. Nur manchmal fragen sie nach einem Selfie und können überhaupt nicht nachvollziehen, warum jemand Geld dafür zahlt, in diese abgelegene Ecke der Welt zu kommen. Schließlich ist es für sie der schlimmste Ort, an den ein indischer Soldat versetzt werden kann.

Auf der anderen Seite erzählt jeder Kaschmiri, mit dem wir sprechen, von der Unabhängigkeit zu Indien, die sich alle so sehr wünschten, von der gewaltsamen Rückkehr der indischen Armee und von einem Freund eines Verwandten, der entführt, gefoltert wurde oder sogar verschwand – jeder Einzelne von ihnen.

Manchmal leidet die ganze Region unter einer Kommunikationssperre, tagelang kein Internet, nicht einmal Telefongespräche, aus irgendeinem zufälligen Grund der öffentlichen Ordnung, der von der indischen Regierung beschlossen wurde. Einige härtere Maßnahmen – wie die vom letzten Sommer – dauern gar monatelang. Keine Kommunikation, kein Strom und viele Kontrollen, um pakistanische Sympathisanten zu finden.

Der jüngste Konflikt beginnt nach einem normalen Freeride-Tag mit mal wieder epischen Bedingungen. Beim Weg zurück zum Hotel war die Spannung in der Luft förmlich spürbar. Bei einem Selbstmordattentat mit dem Ziel, einen militärischen Convoy aufzuhalten, sterben über 40 indische Soldaten, der schlimmste Angriff der vergangenen zehn Jahre. In wenigen Tagen eskaliert die Situation, Jets werden abgeschossen und der gesamte Luftraum der Region Kaschmir folglich gesperrt.

All das passiert zum Ende meiner Reise, als ich das Land verlassen möchte. Bei der Taxifahrt zum Flughafen in Srinagar, der Hauptstadt von Kashmir, passieren wir so viele Kontrollen, dass wir aufhören zu zählen. Der Fahrer spricht mit den Menschen am Wegesrand und entscheidet sich dazu, vor einem Laden zu halten, der keine Elektrizität mehr bekommt. Uns wird gesagt, dass es in der Straße zu einem Vorfall zwischen Soldaten und Demonstranten gekommen sei. Zum Glück dürfen wir im Shop warten, bis sich die Situation beruhigt, uns Tee wird uns serviert, Decken gereicht und wir können uns ausruhen. Nach fünf Stunden, die uns wie Tage vorkommen, geht es endlich weiter. An der Stelle, wo es kurz zuvor die Ausschreitungen stattfanden, steht der einzige Laden, der noch geöffnet hat. Das erste, was der Besitzer uns fragt, ist, ob wir uns sicher in seinem Land fühlen. Das erleben wir häufig: Alle wollten nur, dass wir uns bei ihnen sicher fühlten. Das ist eine ihrer größten Sorgen.

Es ist nicht der Powder, nicht das Freeriden, nicht die Affen und auch nicht die lokale Kultur.

In Srinagar angekommen trauen wir unseren Augen kaum. Das Leben in der Hauptstadt wirkt völlig normal, als sei überhaupt nichts gewesen. Die Leute, mit denen wir sprechen, sind genauso warm und freundlich wie immer. Nichts an ihnen zeigt uns, dass sie so lange ohne Frieden leben mussten.

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Obwohl mein Flug gestrichen wird, kann ich umbuchen und kann das Land mit der letzten Maschine verlassen, bevor der Luftraum endgültig gesperrt wird. Im Flugzeug kommen all die Erinnerungen hoch und ich verstehe plötzlich, was eine Reise nach Gulmarg in Kaschmir so außergewöhnlich macht. Es ist nicht der Powder, nicht das Freeriden, nicht die Affen und auch nicht die lokale Kultur. Es ist der Mut der Menschen, denen man jeden Tag begegnet.

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