Im letzten „Blickwinkel“ zählte uns Terje Håkonsen einige Argumente auf, warum er sich 1998 gegen die Teilnahme an Olympia entschied. Heute lassen wir den amtierenden Olympiasieger und designierten Goldmedaillengewinner von Vancouver 2010 Shaun White zu Wort kommen.
Shauns Olympia-Vorbereitung begann schon vor gut einem Jahr, als ihm sein Sponsor Red Bull in dem kleinen Kaff Silverton in Colorado eine private Pipe samt Schnitzelgrube in die Pampa stellte. In dieser konnte der 23-jährige Kalifornier vier neue Pipe-Tricks erlernen, die den Rest der Snowboard-Pipe-Welt in eine Double-Cork-Trainingshysterie versetzte. Kevin Pearce, der sich an Silvester tragischerweise beim Training ebendieses Double Cork schwer am Kopf verletzte und sich derzeit in der Reha befindet, fällt leider in Vancouver aus. Ebenso Danny Davis, der es Anfang Januar noch schaffte, Shaun bei einem der Ausscheidungswettbewerbe des US-Teams in die Schranken zu weisen, aber nach einen Quad-Bike-Unfall mit Folge eines gebrochenen Wirbels nun ebenfalls nicht nach Vancouver reisen kann. Somit gilt Shaun für viele als alleiniger Titelanwärter. Ob Shauns mentale Stärke ihn wieder einmal unbesiegbar machen wird oder ob er infolge der immensen Belastung aller Erwartungen wie 2006 in Turin während der Quali Nerven zeigen und straucheln wird, können wir in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar live im TV verfolgen. Welchem Druck sich Shaun selbst ausgesetzt fühlt und wie er sich auf den Höhepunkt des Jahres vorbereitet, erfahrt ihr hier aus seinem Blickwinkel.
Shaun, diese Ausgabe des MBM erscheint am Tag der Eröffnungfeier der Olympischen Spiele. Wie sehr beschäftigt dich dieses Ereignis schon jetzt?
Zweifellos denke ich oft an die Spiele, aber es nimmt mich nicht komplett ein. Ich habe zurzeit eine Menge Spass daran, mich zu verbessern und neue Tricks in der Pipe zu lernen. Es ist schon ziemlich lange her, dass ich so viel Zeit zum Lernen und Trainieren hatte. Die Spiele rücken immer näher, aber bis dahin gibt es ja auch noch den ein oder anderen Contest, den ich mitfahren will, um meine Runs zu üben und dabei sicherer zu werden.
Hast du deine Runs schon vom ersten bis zum letzten Hit durchgeplant oder wirst du abwarten, was die anderen zeigen werden?
Hoffentlich werde ich bis dahin einige verschiedene Runs im Hinterkopf haben. Aber keiner weiss, wie die Pipe aussehen wird und ob die Walls letztlich gut oder schlecht sein werden. Man muss sich bei all seinen Tricks wohl fühlen, also muss man seine Runs und Tricks den Gege-ben-heiten anpassen.
Ist es eher Vorfreude oder Nervosität, die sich bei dir vor dem weltweiten Medienspektakel Olympia breit macht?
Ich würde sagen, von beidem etwas. Man bereitet sich so lange auf diesen einen Contest vor, dass man schon ziemlich aufgeregt ist, wenn es endlich losgeht. Es sind so viele Athleten da und alle sind gestoked, dabei zu sein. Aber sobald ich auf den Berg gehe, werde ich mich voll und ganz darauf konzentrieren, was ich zu tun habe. Ich bin nie wirklich nervös, eher ein bisschen unruhig, da ich es kaum abwarten kann, endlich loszulegen und das zu zeigen, was ich zeigen will.
Wer wird dich daran hindern können, dass zweite Mal nach Gold zu greifen?
Zurzeit gibt es viele, deren Riding verdammt stark ist und die, wenn man es überspitzt ausdrückt, eine Bedrohung darstellen könnten. Und es sind nicht nur die Amis, die rippen, sondern auch die Europäer geben mächtig Gas. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass es ein krasser und spannender Battle um das Podium wird.
Hast du eigentlich Schiss bekommen, dass die „Mission Gold“ schwerer wird als erwartet, nachdem Danny Davis im Januar den ersten von zwei Grands Prix in Mammoth mit fast perfekten 49,2 Punkten gewonnen hat?
Als Erstes: Dannys Run war der absolute Hammer! Damit hat er den Vogel voll abgeschossen! Sein Run hat mir geholfen, mich darauf zu fokussieren, was ich zeigen muss, um gewinnen zu können. Manchmal brauche ich es einfach, dass mir mein Arsch auf einem Silbertablett serviert wird, damit ich mich wieder besser motivieren kann.
Denkst du, dass es in Vancouver jemand schaffen kann, die perfekten 50 Punkte zu bekommen?
Ich hoffe, nicht! Ich glaube, dem Druck will sich wirklich niemand ausgesetzt fühlen.
Was motiviert dich, immer noch einen draufzulegen, nachdem du schon alles gewonnen hast, was es im Freestyle-Snowboarden zu gewinnen gibt? Geld, Erfolg, Ruhm, Passion, Frauen, Unsterblichkeit..?
Im Ernst, ich liebe es einfach, Contests zu fahren. Zu Hause kann ich nicht einmal Monopoly spielen, ohne als Sieger vom Tisch gehen zu wollen. Ich glaube, dass ich da schon fast etwas krankhaft bin.
Was würde dir die Back-to-back-Goldmedaille bedeuten?
Die würde mir natürlich eine Menge bedeuten. Der Riding-Level ist so extrem nach oben geschossen, dass ein Sieg die absolute Krönung wäre! Aber mit den Tricks, die momentan gestompt, und den Scores, die verbucht werden, wird es eine grosse Herausforderung, die Spiele gewinnen zu können.
Kennst du die Geschichte von Samson aus der Bibel, der unverwundbar und unbesiegbar war, bis ihm jemand nachts im Schlaf die Haare abgeschnitten hat? Was ist dein Ass im Ärmel, falls du am Morgen der Halfpipe-Finals plötzlich mit einer Glatze aufwachst?
[lacht] Die Geschichte kenne ich nicht, aber ich hoffe natürlich, dass so etwas nicht passiert! Nicht weil ich davor Angst hätte, nicht mehr fahren zu können, sondern weil ich mich auf keinen Fall morgens mit Glatze im Spiegel sehen wollte…
Wie denkst du darüber, dass die Qualifikation für die Spiele von der FIS organisiert wird? Sollten sich die Snowboarder nicht zusammentun und ein Statement setzen, wie es Terje damals getan hat?
Ich glaube, Snowboarden ist heutzutage anders – mit allen Vor- und Nachteilen. Terje machte damals dieses Statement, da Snowboarden einen anderen Background hatte. Er hat die Geschichte und Anfänge des Snowboardens miterlebt und hatte eine sehr starke Überzeugung, wohin es seines Erachtens gehen sollte. Der Background ist für die heutige Jugend aber ein völlig anderer und auch die jüngste Geschichte des Snowboardens ist anders als die von damals, zum Beispiel ist Snowboarden heutzutage viel anerkannter. Darum finde ich, dass es sehr schwer fällt, wieder ein ähnliches Statement zu setzen.
Denkst du denn, dass die Olympischen Spiele gut sind für das Snowboarden und dass es durch das IOC und die FIS richtig präsentiert wird?
Eigentlich muss man sich mehr Sorgen über manche Medien machen, wie sie unseren Sport darstellen, als über diese Gremien. Sogar die FIS und das IOC haben mittlerweile dazugelernt. Die Judges sind ja keine Skifahrer, nur ihre Bosse. Nicht alles ist korrekt, aber grösstenteils finde ich, dass es gar nicht so schlimm ist, wie manche Dinge gehandhabt werden. Das viel grössere Problem ist, wie der Sport im Fernsehen präsentiert wird. Die machen sich mehr Sorgen darum, dass sie ein gutes Close-up vom Gesicht des Fahrers bekommen, als dass sie den Trick und dessen Höhe und all das, was Snowboarden cool macht, zeigen.
Und was denkst du zum Beispiel über IOC-Regeln wie die Kleiderordnung? Auch wenn die US-Team-Uniform ziemlich cool aussieht, denk doch nur mal an Danny Kass in Burton-Klamotten… das passt doch irgendwie nicht zusammen, oder?
Na ja, solche Regeln sind schon komisch. Sie werden mich ja auch in Nike-Boots stecken, das ist das Gleiche in Grün.
Was ging dir durch den Kopf, als du vor gut einem Jahr erfahren hast, dass du deine private Pipe bekommst?
Die private Pipe war echt gut für mich, weil ich endlich mal in Ruhe trainieren konnte. Wenn ich snowboarden gehe, dann ist es meist bei einem Contest oder bei einem Photoshooting, es sind immer sehr viele Leute da und es ist nicht einfach die Zeit zu finden, einfach mal zu shredden oder zu trainieren. Die Silverton-Session hat mir also wirklich geholfen, da ich dort die Zeit hatte, nur ans Shredden zu denken.
Haben die private Pipe und deine Siege bei den New Zealand Open und dem Grand Prix in Copper Anfang Dezember den Druck auf dich zusätzlich erhöht oder geben sie dir ein Gefühl von mehr Sicherheit?
Ganz ehrlich, ich glaube, Silverton hat die Sache für mich schwieriger werden lassen. Als die Leute von der Pipe und meinen neuen Tricks hörten, haben alle einen Gang hochgeschaltet und ebenfalls angefangen, an neuen Tricks zu arbeiten. Das Ganze hat den Riding-Level extrem gepusht und mehr Druck auf alle Beteiligten ausgeübt.
Wie gehst du mit dem ganzen Druck um? Kannst du überhaupt noch abschalten?
Genau kann ich das nicht beantworten, ich schaffe es einfach gut, solche Dinge zu verdrängen und nicht an mich heranzulassen. Es ist schwer zu beschreiben, aber wenn es darauf ankommt, schaffe ich es immer wieder, mich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Was ging dir durch den Kopf, bevor du das erste Mal den Double Cork in die Pipe und nicht in die Schnitzelgrube gelandet hast?
Ich hab mir verdammt noch mal fast in die Hose geschissen. Es war ein beschissenes Gefühl!
Und wie begegnest du deinen Kritikern, die dir immer vorgeworfen haben, du hättest Snowboarden nicht vorangetrieben, weil du keine neuen Tricks erfunden hättest, sondern immer nur auf Sieg gefahren wärst? Waren die Double Corks und der Double McTwist 1260° nicht eine grosse Genugtuung für dich?
Das passt schon, es macht mir wirklich nichts aus, was andere sagen, auch wenn ich meiner Meinung nach schon den Sport gepusht habe. Es ging und geht mir darum, mich selbst zu verbessern. Das ist, was Snowboarden für mich ausmacht.
Was hast du empfunden, als du von Kevin Pearce’ Unfall und schwerer Verletzung gehört hast?
Als ich davon gehört habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Wir kennen uns schon so lange, und auch wenn es ihm schon besser geht, ist es verdammt schwer für mich zu verarbeiten, was mit Kevin passiert ist.
Was ging dir durch den Kopf vor deinem ersten Double Cork nach dieser Nachricht?
Ich glaube, nicht nur mir, sondern jedem haben die Knie geschlottert und jeder hat gezögert, bevor er den Trick wieder versucht hat.
Was macht dir mehr Angst: am Drop-in der Pipe zu stehen und zu wissen, dass du den besten Run ever mit mehreren Double Corks zeigen musst, oder am Drop-in eines First Descent in Alaska zu stehen?
Oh Mann, das ist ’ne gute Frage. Bei den Olympischen Spielen machst du dir in die Hosen, weil dir die ganze Welt zuschaut. In Alaska hast du Schiss, weil du draufgehen kannst.
Zum Schluss bitten wir dich, die folgenden Sätze zu -vervollständigen:
Wenn ich meine zweite Goldmedaille gewinne…
… feiere ich bis zum Umfallen!
Wenn ich die Goldmedaille nicht gewinne…
… muss ich noch härter feiern!
Für die Eröffnungsfeier in Vancouver werde ich…
… versuchen, mir einen Schnauzer wachsen zu lassen.
Wenn ich bei der Siegerehrung anfange zu heulen…
… werde ich an meine Familie denken.
Dann hoffen wir mal alle, dass du dir in Vancouver nicht in die Hose scheisst, und wünschen dir viel Erfolg bei den Spielen. Vielen Dank für deine Zeit!
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