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Rider

Annie Boulanger

Sie ist in den eisigen Parks Ostkanadas gross geworden und hätte die Slopestyle-Queen des neuen Jahrtausends werden sollen. Als Jugendliche spulte sie die Video-Parts von Victoria Jealouse noch vor, weil sie Backcountry langweilig fand. Fast schon ein Kapital verbrechen, das man ihr heute verübeln könnte.

Doch heute sind da ihre eigenen Video-Parts, in denen sie seit mehreren Jahren neue Massstäbe für Frauen-Snowboarden im Backcountry setzt. Die Zeiten, in denen Mädels nur für die Quote in den Filmen der Jungs gefeaturt wurden, sind vorbei. Unser Sport hat seine neue Victoria gefunden, ihr gehört die Zukunft im Backcountry. Annie Boulanger erzählt im Interview über die eine Vision, die sie vorantrieb, über notgeile Jungs in Alaska und über das Recht der Frauen, ebenfalls ein grosses Stück vom Kuchen essen zu dürfen.

Annie, du tourst gerade mit Absinthe Films von Premiere zu Premiere. Wie hält man es als Mädel aus, mit Bad Boys wie Romain de Marchi unterwegs zu sein?
Das ist ganz okay. Ich bin ja nicht die Freundin dieser Jungs, also kann es mir auch Wurst sein, wenn sie völlig über die Stränge schlagen. Von mir glauben sie wahrscheinlich, dass ich ziemlich langweilig sei… [lacht]

Langweilig?
Ja, weil ich nie feiere. Ich hatte auch Zeiten, in denen ich Party gemacht habe, aber irgendwie bin ichb nicht mehr so scharf darauf. Heute bleibe ich so lange in der Bar, wie ich mich mit den Leuten um mich herum noch unterhalten kann. Wenn alle zu dicht sind, gehe ich schlafen.

Wie haben die Leute auf den Premieren auf deinen und Marie-France Roys Part reagiert?
Sehr gut! Toll war vor allem, dass uns auch viele Jungs gratuliert haben. In Seattle kamen ein paar Boys zu mir und hörten kaum auf, davon zu schwärmen, wie toll sie es fänden, dass Girls im Backcountry so abgehen. Es war cool zu hören, dass Marie und ich selbst für Jungs eine Inspiration sein können. Das motiviert ungemein.

Wenn ich an Mädels-Parts in anderen Filmen denke, dann kann man über euren Part aber auch vorbehaltlos sagen, dass ihr nicht nur wegen der Frauenquote Teil von „Neverland“ seid…
Lustig, dass du das ansprichst. Einer der Jungs in Seattle meinte, dass „Neverland“ der erste Snowboard- Film wäre, in dem ihn der Frau en-Part nicht gestört hätte. Manch mal schämte man sich bei einigen Mädels-Parts in den Jungs-Filmen ja schon fast fremd, weil die Unterschiede zwischen Jungs und Mädels oft so gross sind. Dass die Leute dies bei „Neverland“ nicht so empfinden, stokt mich natürlich. Für Justin hat es sich offensichtlich ausgezahlt, Marie und mir einen solch grossen Part zu geben.

Heisst das, Justin Hostynek musste von der Mädels-Idee erst überzeugt werden?
Ich glaube, Justin ist sehr daran interessiert, Frauen-Snowboarden zu pushen. Das hat er ja schon mit meinen Parts in „Optimistic“ und „Ready“ bewiesen. Dass Marie und ich uns perfekt ergänzen, macht die Sache für ihn wohl auch einfacher. Sie ist extrem stark auf Backcountry- Kickern, mein Ding sind eher Cliffs und Lines. Zusammen können wir einen umfassenden Part abliefern. Mir bedeutet es unglaublich viel, mit ihr filmen zu dürfen. Wir Mädels können da draussen genau so viel Spass haben wie Jungs, das wollte ich den Leuten zeigen.

Diesbezüglich hat Absinthe-Filmer Shane Charlebois gesagt, dass Marie-France und du die einzigen Mädels seien, die am Berg genauso frei von Missgunst und Eifer süchteleien funktionieren würden wie die Jungs.
Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass viele Girls, ich inklusive, sehr ehrgeizig sind. Dieser Ehrgeiz wird für uns Mädels am Berg oft zum Stolperstein: Statt uns zu pushen, beneiden wir uns gegenseitig und stehen uns im Weg. Im Snowboarden ist es wohl auch so, dass wir Mädels im Gegensatz zu den Jungs eine sehr seltene Spezies sind. Wir sind nicht gewohnt, das Rampenlicht teilen zu müssen, und sässen lieber alleine auf dem Thron.

Was ist mit Marie-France nun anders?
Eigentlich haben wir doch alle angefangen zu snowboarden, weil wir dabei draussen mit unseren Freunden Spass hatten. Romain de Marchi und JP Solberg zusammen am Berg zu sehen hat mich daran erinnert. Ich wusste, dass ich nur von einem Mädel ebenso gepusht werden könnte und genauso viel Spass haben würde. Jungs sind Jungs. Auch wenn es cool ist, mit ihnen zu shredden, mit einem ebenbürtigen Mädel am Berg zu sein ist einfach etwas anderes. Marie kannte ich vorher nur beiläufig. Sie wirkte auf mich aber schon immer sehr positiv und ich wusste, dass sie keine Zicke wäre. Darauf vertraute ich und es zahlte sich aus.

Ich versuche gerade, mir auszumalen, wie Annie allein mit einem Haufen Jungs vier Wochen in Alaska festsitzt – eine beinahe beängstigende Vorstellung…
[lacht] Würdest du das die Jungs fragen, würden sie wahrscheinlich sagen, dass ich am Ende des Monats so viel besser ausgesehen hätte als noch am Anfang… Mädels sind in Alaska ziemlich rar und nach einem Monat sehen dich die Jungs mit anderen Augen… Manchmal musste ich sie da ran erinnern, dass ich immer noch Annie und nicht irgendein dahergelaufenes Chick wäre! Im Grossen und Ganzen haben sie sich aber immer grossartig um mich gekümmert.

„Grossartig“ ist auch in etwa das Wort, mit dem die Absinthe-Crew dich beschrieben hat. Cale Zima gab sogar zu, dass er den Frontside 360° aus deinem Part selbst niemals stehen würde.
[lacht] Wirklich? Cool zu hören! Mir gegenüber sind sie nicht so grosszügig mit Komplimenten, wobei ich sagen muss, dass ich viele meiner Shots den Jungs verdanke. Gerade Romain de Marchi sagt mir am Berg immer wieder, dass ich endlich auf hören solle, mich selbst zu unterschätzen. Dann zeigt er mir eine Line und pusht mich so lange, bis ich sie droppe. Ohne ihn würde ich niemals so viel riskieren. Das gilt eigentlich für die ganze Crew. Ich meine, selbst die Filmer brauchen Eier, sich am Morgen in Whistler auf dem Parkplatz hinzustellen und zu sagen, dass sie heute ein Mädel shooten, während die Filmer der Konkurrenzproduktionen darauf lässig mit „Ach ja? Ich shoote heute Devun Walsh!“ antworten. Die Akzeptanz und den Respekt der Crew zu spüren ist echt Gold wert.

Bist du dieses ewige Thema um Mädels und Jungs nicht manchmal leid?
So überholt, wie es mir manchmal erscheint, es ist ja schon auch berechtigt. Wir sind nun mal nicht gleich, und egal wohin du als Mädel kommst im Snowboarden, du musst dich immer erst mal beweisen. Wenn ein Typ neu zu einer Backcountry-Crew stösst, hat er automatisch den Respekt der anderen. Mädels müssen sich den erst er arbeiten. Ich spüre im Moment aber in der ganzen Szene einen Wandel. Ich werde von Mädels interviewt, fotografiert, sie sind meine Ansprechpartnerinnen bei Sponsoren und Filmproduktionsfirmen… Wir übernehmen langsam, aber stetig mehr vom Ruder und es macht einfach mehr Spass, mit Mädels zusammenzuarbeiten. [lacht]

Du bist mit einem grossen Bruder aufgewachsen.
Das hat sicherlich viel dazu beigetragen, dass mir der Umgang mit Jungs heute weniger Mühe bereitet. Mein Bruder hat mich als kleines Mädchen schon immer gepusht, mir all die Sportarten beigebracht und mich verprügelt. [lacht] Ausserdem setzten meine Eltern den Massstab immer an ihm an: Der Boulanger-Haushalt war ein Männerhaushalt, Tränen gab es nicht und Komplimente flogen auch keine durchs Haus. Das hat mich sicherlich recht tough werden lassen. Etwas, was ich heute gerne vermehrt ablegen würde.

Wie meinst du das?
Deine Kindheit prägt dich. Und wenn du als Kind lernst, dass es eine Schwäche sei, Gefühle zu zeigen, dann hältst du das auch später so im Leben. Ich wirke anderen gegen über wohl oft sehr kühl. Nicht weil ich sie nicht mögen würde, sondern weil ich diese „Emotionslosigkeit“ so mit auf den Weg bekommen habe. Ich lese viele Bücher zu diesem Thema, die mir helfen, zu reflektieren und meine Mitmenschen positiver und freundlicher zu begegnen. Das soll nun aber nicht heissen, dass ich meine Kindheit nicht genossen hätte oder irgendetwas bereuen würde. Ich wäre nie dahin gekommen, wo ich heute bin, hätte ich meine Familie nicht gehabt. Es soll bloss zeigen, wieso ich heute den Eindruck mache, eine so toughe Lady zu sein. [lacht]

Wer hat dich zum Snowboarden gebracht?
Mein Bruder. Ich fuhr anfangs immer mit ihm und seinen Freunden. Meine Mutter hat mich aber ebenfalls sehr gepusht. Dinge wie „Das kannst du nicht machen, du bist ein Mädchen!“ habe ich nie zu Ohren bekommen.

Als du dich nach der High School entschieden hast, von Montreal im Osten Kanadas nach Whistler in den Westen zu ziehen, waren deine Eltern aber nicht allzu begeistert.
Als ich meiner Mutter mit 15 Jahren zum ersten Mal sagte, dass ich nach Whistler ziehen wollte, sagte sie mir, dass ich das gleich vergessen könnte. Also verbrachte ich drei weitere Jahre damit, alle Snowboard-Magazine zusammenzukaufen, die X Games zu schauen und mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ich hatte diese eine Vision, Snowboard-Pro zu werden, und davon konnte mich niemand abbringen. Einen Plan B gab es nicht! Mit 18 konnte man mich nicht länger stoppen. Ich packte meine Sachen und zog nach Whistler. Heute sind meine Eltern stolz auf mich.

Wie hast du dich als 18-Jährige ohne die Unterstützung deiner Eltern durchgeschlagen?
Ich arbeitete während der Saison in Whistler in einer Bar und den Sommer über daheim in Montreal als Ret tungsschwimmerin. Dank dieser Jobs konnte ich genug Geld sparen, um das teure Leben in Whistler zu finanzieren. Irgendwann war es dann so weit und meine Sponsorenverträge und das Preisgeld der Contests brachten mich über die Runden.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass du nicht gerade die grösste Contest-Liebhaberin bist. Bist du die Contests damals nur wegen des Geldes gefahren?
Nicht wirklich. Es gab damals für Mädels gar keinen anderen Weg, sich einen Namen zu machen. Es gab keine Produktionen, die uns zum Filmen mitgenommen hätten. Dazu kommt, dass ich anfangs nur kleine Contests in Kanada fuhr, die finanziell gar nicht so interessant waren. Zu den Contests mit dem guten Preisgeld wollte ich erst gehen, sobald ich mich gut genug fühlte, um gewinnen zu können.

Und dann fuhrst du 2002 das erste Mal zu den US Open und gewannst.
Eigentlich wurde ich dazu gezwungen… Es war das Olympiajahr und ich hätte mich eigentlich für die Spiele qualifizieren sollen. Nach den ersten nationalen Ausscheidungen entschied ich mich aber dagegen, weil mir die FIS und all ihre bescheuerten Regeln einfach zu blöd waren. Als ich meinem Teammanager sagte, dass ich Olympia nicht fahren wollte, bat er mich, zumindest auf die US Open zu gehen. Ich wusste, dass ich nicht gut genug war, um die Halfpipe zu gewinnen, sah aber eine Chance, in der Quarterpipe erfolgreich zu sein. Da der Quarterpipe-Contest aber ein Invitational und ich ein absoluter No Name war, hatte ich keinen Startplatz. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Judges so lange zu bearbeiten, bis sie mir die Chance gaben, ein Training mitzufahren… Ich war gut genug fürs Training, durfte den Contest mitfahren und gewann.

Noch mal als Zusammenfassung: Klein-Annie, die 2002 noch niemand kennt, labert so lange die Judges voll, bis diese sie mitfahren lassen, und gewinnt dann den Contest… Dieses Selbstvertrauen ist schon unglaublich für eine 20-Jährige.
[lacht] Ist das nicht cool? Wenn ich jetzt zurückdenke, muss ich selbst darüber lachen. Ich meine, ich stand am Ende des Tages zusammen mit Terje Håkonsen zuoberst auf dem Podest… Die Leute haben sich wahrscheinlich alle gefragt, wer denn zur Hölle diese kleine Kanadierin ist.

Du scheinst schon immer einen sehr ausgereiften Sinn gehabt zu haben, deine Fähigkeiten einzuschätzen.
Ich bin mir gegenüber meist sehr kritisch, weiss gleichzeitig aber auch genau, was ich wirklich kann und worin ich gut bin. Dazu kommt, dass ich es schon immer gehasst habe, wenn mich andere Leute stoppen wollten. Das Beispiel mit meinen Eltern zeigt dies am deutlichsten: Hätten sie mich damals nach Whistler gelassen, wäre es für mich allenfalls nur halb so interessant gewesen wegzuziehen. Ich lasse mir einfach nicht gerne sagen, was ich zu tun habe. [lacht]

Wann hast du dich entschieden, das Contest-Fahren einzustellen?
In Whistler zu leben und gleichzeitig Contests zu fahren ist schier unmöglich. Es schneit so viel bei uns, Park und Pipe sind ständig voll mit Neuschnee. Ich fuhr oft ohne vorherige Trainigs auf Contests, verlor mein Selbstvertrauen und verletzte mich zunehmend. Einmal so stark, dass ich eine ganze Saison aussetzen musste. Ich entschied, Snowmobile-Fahren zu lernen. Während einer Saison fuhr ich Tag für Tag mit den Jungs raus, sah ihnen beim Shredden im Backcountry zu und versuchte, vom Zuschauen zu lernen. In der darauf folgenden Saison fühlte ich mich bereit, alles aufs Filmen zu setzen, und schaffte es, die Jungs einer befreundeten Film-Crew und meine Sponsoren von dieser Idee zu überzeugen.

Deine Sponsoren waren damit einverstanden?
Zuerst überhaupt nicht. Es war in einer Zeit, in der ich als das neue Slopestyle-Chick galt, das alle Contests gewinnen konnte. Meinen Sponsoren passte dieses Label, sie wollten es für mich so halten. Als ich ihnen sagte, dass ich keine Contests mehr fahren würde, waren sie sehr enttäuscht. Sie flehten mich an, dass ich mir das nochmals überlegte. Aber ich wollte nicht und als Folge davon wurden meine Verträge schlechter. Doch so lange mich niemand aus den Teams schmiss, war mir das egal. Ich konnte endlich das tun, was ich liebte, und das war, draussen mit meinen Freunden zu shooten.

Du bist in Parks aufgewach sen. Was sind deine Erinnerungen an die erste Powder-Landung?
Ich erinnere mich, dass ich früher bei Powder-Kickern zum Teil dachte: „Pipifax, das könnte ich auch, wenn ich Powder in der Landung hätte!“ [lacht] Früher habe ich bei Victorias Jealouses Parts in Snowboard-Filmen vorgespult, weil ich die Backcountry Shots so langweilig fand. Dieses Feedback bekam ich am Anfang dann auch vom Rest der Mädels: Frauen im Backcountry fanden alle lächerlich und man sagte mir nach, dass ich mich doch nur zum Affen machen würde. Wie es mir selbst dabei erging? Klar, am Anfang habe ich Dreck gefressen, richtig viel. Doch irgendwann habe ich ein Gefühl für Powder-Kicker und Landungen entwickelt. Seither lebe ich die beste Zeit meines Lebens und bin nicht mehr das verbitterte Chick, das gezwungen wird, Contests zu fahren.

Siehst du deine Aufgabe darin, den Weg für Mädels zu ebnen, die eben falls eine Karriere im Backcountry anstreben?
Ich hatte früher immer das Bedürfnis, Victoria Jealouse so vielen Mädels wie möglich vorzustellen. Sie war für mich die Göttin und ich dachte, dass jedes Mädel, das snowboarden wollte, sie kennen müsste. Mich selbst sah ich selten in dieser Rolle. Jetzt, da es plötzlich so gut läuft mit Absinthe und immer mehr Mädels auf mich zukommen, mir Fragen stellen und mir sagen, dass ich eine Inspiration für sie sei, wird mir diese Vorbildfunktion langsam bewusst. Ich glaube, ich schulde es den Mädels da draussen. Sie verdienen es ebenso wie auf strebende Jungs, die ganze Auswahl an Möglichkeiten innerhalb des Snowboardens präsentiert zu bekommen.

Zum Schluss noch ein Ausblick auf deine Zukunft: Du designst deine eigenen Jacken bei Nike und hast da mit ziemlich grossen Erfolg. Ist das eine Option für die Zeit nach dem Snowboarden?
Wer weiss… Meine Grossmutter war Haute-Couture-Schneiderin, vielleicht ist das also meine Bestimmung. [lacht] Der ultimative Plan ist im Moment, nach dem Snowboarden einen Job zu finden, bei dem ich im Sommer am Meer sein kann und im Winter in den Bergen. Ich liebe Surfen genauso wie Snowboarden und brauche die Natur. Wenn ich das also irgendwie hinbekomme, werde ich glücklich alt… [lacht] Für den Moment freue ich mich aber einfach auf die nächste Saison on the road mit Marie-France Roy und Absinthe Films.

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